Michael Ende
Voller Verwunderung stellte Michael Ende fest, dass seine Leser ihn vor allem wegen einer sehr speziellen Eigenschaft seiner Phantasie bewundern würden. Er könne so wunderbare surreale Landschaften erfinden, staunenswerte Phantasiewesen aller Art, und selbst die Namen seiner Figuren seien immer originell und einmalig. Für Michael Ende war aber die Fähigkeit, diese Art von neuartigen Vorstellungen zu schaffen, nichts besonderes, sondern durch Übung herstellbar. Man müsse nur lernen, in sich ohne jede Form von Absicht hineinzuhören und in Konzentration der Kette von assoziativen Entsprechungen folgen, die sich im Geiste bilden. Phantasie könne aber viel mehr schaffen.
Die eigentliche Urleistung der Phantasie sei es, Werte zu schaffen. Werte gäbe es in der Natur nicht, dort herrsche Hauen und Stechen. Werte habe allein der Mensch „in die Welt hineingetragen“, der Welt hinzugefügt. Sie seien dessen ureigene Kreation. Was für ein bewegender, muteinflößender Gedanke!
Jeder Mensch müsse seine eigenen Werte immer wieder neu erfinden, um sich selbst in der Welt als sinnvoll zu erleben und sein Leben mit anderen danach auszurichten. Und was für den Einzelnen gelte, gelte für die Allgemeinheit: jede Familie, jede Generation, jede Gesellschaft müsse Vorstellungen davon entwickeln, wie das Leben des Einzelnen darin ausgerichtet, wie das Miteinander gestaltet wird. Die jeweilige Mischung und Gewichtung der jeweiligen Werte mache das Individuum aus und, im Großen gesehen, eine Kultur. Jeder müsse sich entscheiden, welche Werte er seinem Leben zugrunde legen will. Und jede Gesellschaft muss die Werte festlegen, die die Grundlage ihres Zusammenlebens bilden soll. Im Guten oder auch im Bösen. Aber das ist eine andere Geschichte, „die ein andermal erzählt werden soll“.
„Die Welt ist eine große Geschichte, und wir spielen darin mit.”
Michael Ende hatte sich sehr bewusst dafür entschieden, die Welt als sinnvoll zu erleben. Wenn er sich entscheiden könne, so erzählte er oft, ob er in der sinnlosen Welt der Existenzialisten leben wolle, in der der Zufall herrsche und alle Gedanken und Gefühle auf die Reaktion irgendwelcher elektrochemischer Prozesse im Gehirn beruhe, oder aber in einer sinnvollen Welt, in der alles miteinander zusammenhänge, so sei ihm die Entscheidung nicht schwergefallen. Es sei sehr viel schöner in einer sinnvollen Welt zu leben, auch wenn verdammt viel schwerer. Denn in diesem Fall haben wir die Verantwortung - für die eigenen Vorstellungen, die da in die Welt hineingetragen werden, aber auch für deren Umsetzung und Einhaltung.
Eine der wichtigen Aufgaben von Kunst bestand für Michael Ende darin, Sinneinheiten herzustellen, fiktiver, poetischer Art. Der künstlerische Schaffensprozess geschah bei Michael Ende in einem ureigenen kreativen Spiel der Phantasie, in dem alle seine Wertvorstellungen, seine Weltsicht, sein Sinnhunger absichtslos darin einflossen. Eine Geschichte war für ihn erst dann fertig, sobald die Zusammenhänge dicht gewoben waren und ein Sinnerlebnis daraus entstand. Dieses sinnvolle „Mobile“, wie es Jim Knopf“ oder etwa „Momo“ darstellt, will nicht belehren und ein Patentrezept zur direkten Umsetzung ins konkrete Leben bieten - will vor allem partout nicht mit Wahrheit verwechselt werden. Es erinnert seine Leser vielmehr daran, dass Sinnvolles schön und erstrebenswert ist und wir Menschen anhand unserer schöpferischen Kraft, unserer Phantasie, tatsächlich Sinnvolles, Wertvolles erschaffen können.
Mut zu Phantasie also! Lasst uns gemeinsam Wertvolles und Sinnvolles schaffen, in einer Welt, die den Glauben an die Kraft Phantasie zu verlieren scheint.